Das Paradoxon der Selbst-Transformation

01.11.2021

Im tibetischen Buddhismus gibt es viele Zeremonien zur Gewinnung eines langen Lebens. Aus einer persönlichen Sicht heraus bietet ein langes Leben viele gute Aspekte. Von der spirituellen Sicht aus betrachtet wird die Betonung eines langen Lebens eine über die persönlichen Vorzüge hinausgehende Angelegenheit. Dies darum, weil das Spektrum der Weisheit unendlich und das Momentum der Inkarnation recht kurz ist, wenn wir diese Weisheit erfahren und leben wollen. Wir bitten darum, mit einem langen Leben, Geistesgegenwart und Gesundheit gesegnet zu werden.

Drei Leitsätze der theosophischen Gesellschaft sind zu verinnerlichen:

1. Vertiefendes Wissen und Verstehen der Alten Weisheit; 

2. Die Einheit allen Lebens;

3. Die spirituelle Selbst-Transformation oder Selbst-Verwirklichung.

Lasst uns hier über das Dritte sprechen.
Solange es keine Veränderung oder einen Wechsel im Zentrum unseres Gewahrseins gibt, wird eine bedeutsame Verbindung zur Weisheit schwierig bis unmöglich sein. Unsere Versuche dahin werden weiterhin Selbst- bzw. -Ego-zentriert bleiben. Die Wünsche von Dingen für uns selbst und das Bild von uns als Person, die wir glauben zu sein, scheinen fest und statisch in uns verankert zu sein und binden die Aufmerksamkeit. Ohne eine Verschiebung des Zentrums dieser unserer Aufmerksamkeit wird eine Verbindung zur Weisheit nicht gelingen. Da wir uns mit jenen uns liebgewordenen Gewissheiten sicher fühlen, wird es bei einer Selbst-Transformation zu einem Konflikt zwischen dem gehuldigten Sinn für das alte Selbst und der Wirklichkeit kommen.

Allgemein denken wir in Begriffen der Veränderung, wenn wir verstehen wollen, was Transformation bedeutet. Wir können aber auch in Begriffen eines Prozesses denken an dessen Ende erst die Veränderung geschieht.

Eine spirituelle Selbst-Transformation ist nicht einfach eine Änderung von Gewohnheiten und Verhalten, sondern wir müssen in der Transformation einen klar entworfenen und stabilen Prozess sehen. 

So wie ich alle spirituellen Traditionen erfahren habe, gibt es einen Schritt-für-Schritt beschriebenen Prozess auf dem Weg zur Erleuchtung, Erhellung oder der Selbst-Transformation.

Betrachte deine Tradition und du wirst eine durchnummerierte spezifische Schrittfolge finden. Yoga hat seine acht Glieder. Der tibetische Buddhismus spricht von einem gestuften Weg zur Erleuchtung, dem Lam Rim. Die katholische Christenheit zeichnet den Weg des Kreuzes. 

In der Theosophie üben und betonen wir das Studium, die Meditation und den altruistischen Dienst. In diese Prozesse engagieren wir uns mit der Erwartung, dass sie am Ende unzweifelhaft zur Selbst-Transformation führen. Wenn wir dabei richtig studieren und meditieren, uns anstrengen und in mitfühlendem Bewusstsein für andere da sind, werden wir am Ende Erleuchtung erfahren. Vielleicht geschieht es auf diese Weise; oder aber- es geschieht nicht.

Die Schritte in diesem Prozess hin zur Selbst-Transformation sind gegeben - aber, die Selbst-Transformation selber ist etwas ganz Verschiedenes davon. Es gibt weder einschlägig zu lesende Bücher noch gibt es Angaben von zu praktizierenden Stunden der Meditation, die mit Sicherheit zur Erfahrung der Selbst-Transformation führen. Die Transformation selbst ist, wenn sie geschieht, ein besonderes Ereignis. Vielleicht steht dieses Ereignis in Beziehung zu unserem Studium, vielleicht ist es von unserer inneren Reinheit oder Ganzheit abhängig; vielleicht aber auch nicht.

Wir können von einigen Menschen sagen, dass sie die Erfahrung einer Erleuchtung oder Selbst-Transformation hatten. Es sind Menschen wie Ramana Maharishi, Jesus, Buddha, Mohammad und andere mit einem spirituellen Leben. Sie übten und studierten, was zu dieser Erfahrung führte und versuchten diese als eine Lehre weiterzugeben. Sie lehrten ein Leben lang und ein jeder im Umfeld hörte ein Leben lang zu. Aber nur sehr wenige hatten die Erfahrung wie von den Lehren beschrieben. Es gibt Menschen, die ohne irgendein Merkmal von Heiligkeit sind und dieses Erlebnis der Selbst-Transformation erfahren haben.

Edgar Mitchell war ein Astronaut im amerikanischen Raumfahrtprogramm und betrat den Mond. Er war ein erfahrener Ingenieur ohne einen besonderen spirituellen Hintergrund oder dass er diesbezügliche Übungen gemacht hätte. Als er im Raumschiff zur Erde zurückkehrte sah er aus dem Fenster unter sich den Planeten Erde. Sie war blau und schien vollkommen. Grenzen zwischen den Ländern konnten nicht gesehen werden. In diesem Moment hatte er eine Erfahrung, die er als kosmisches Bewusstsein beschrieb.(1) Diese Erfahrung veränderte ihn und sein Leben für immer. 

Als er wieder auf der Erde zurück war, setze er sich mit all seiner wissenschaftlichen Erfahrung und Expertise dafür ein, besser zu verstehen wie Bewusstsein in der Welt wirkt.

Es gibt im Englischen ein bekanntes Lied, wenn nicht das bekannteste überhaupt mit dem Titel "Amazing Grace"- in der deutschen Übersetzung vielleicht "wundervoll überströmende, umfassende faszinierende Gnade und Huld." Es ist ein schönes Lied über die Erfahrung einer Erleuchtung, die dem Autor widerfahren ist. Sein Name ist John Newton, der Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts lebte. 

Der Text des Liedes: 

,,Wundervolle Huld und Gnade, wie süß es klingt, sie rettete ein armes Wesen wie mich; einmal war ich verloren, nun habe ich mich gefunden; war blind und jetzt kann ich sehen." 

Es gibt weitere Strophen, aber diese beschreibt den Moment, als die Erleuchtungserfahrung über ihn kam. In der Zeit bevor John Newton den Song schrieb, war er Prediger und ein Minister der Kirche von England und sehr verschieden von dem erleuchteten Mann. Man sagt,

 ... jeder Heilige hat eine Vergangenheit und jeder Sünder hat eine Zukunft". 

Ein heiliger Prediger war er als er den Song schrieb. Seine spirituelle Erfahrung selbst hatte er, als er aktiv im Sklavenhandel tätig war. Newton kaufte und verkaufte Menschen afrikanischer Herkunft und "verschiffte" sie über den Atlantik nach Amerika. Während dieser unheiligen Tätigkeit geschah dieses Herabströmen einer wundervollen Gnade auf ihn. Es war nicht das Ergebnis irgendeines bewusst gesteuerten spirituellen Prozesses. Das Ereignis muss seine Wurzeln in Etwas haben, das für uns unsichtbar ist. Eine Selbst-Transformation verbindet sich zwar mit einem von uns geleiteten Prozess, aber die konkrete Erfahrung ist etwas ganz Verschiedenes davon. Augenscheinlich ist beides, Prozess und Erlebnis, irgendwie miteinander verbunden. Aber wir irren uns, wenn wir glauben dies zu verstehen.

Als Buddha erleuchtet wurde, kehrte er zu seinen fünf Begleitern, die sich in asketischen Praktiken übten, zurück und gab ihnen eine erste Lesung. Wie er sprach, erfuhr eine Person, der die ersten Worte von ihm zu Herzen gingen, eine Erleuchtung. Jene Person aber, die am längsten, nämlich 45 Jahre lang Buddha begleitete und sein geliebter Schüler und Zuhörer Ananda war, erfuhr keine Erleuchtung. Er sah Leute kommen, die den Buddha kurz trafen und erleuchtet wurden. Andere studierten und lernten die Lektion über Jahre hinweg und erfuhren Erleuchtung. Nur Ananda erfuhr nichts dergleichen; er war mit Buddha alle die Jahre zusammen, studierte und praktizierte. Nach dem Tode des Buddha versuchten seine Schüler die gegebenen Lehren zusammenzustellen. Ananda hatte alle Lehren gehört und wurde damit die hauptsächliche Person für diese Aufgabe, obwohl er selbst nicht erleuchtet war. Jedoch unmIttelbar vor seinem aktiven Erinnern, kaum dass sich sein Gedächtnis mit den Lehren des Buddha verband, durfte er endlich die Erleuchtung erfahren. 

Menschen mit dieser Erleuchtungserfahung erkennen in dem Ereignis der Selbst-Transformation den Gipfel, das Höchste an menschlichem Vermögen. Es ist eine Befreiung oder Entfesselung des universalen Bewusstseins von den Begrenztheiten der Personalität und wird zum Ziel des menschlichen Daseins erklärt. Jene, denen dies widerfahren ist, wenn auch vielleicht nur in geringem Maße, verändern ihr Leben und helfen anderen, dieses Bewusstsein zu kultivieren. Alle sagen, dass es unmöglich ist, eine Beschreibung dieses universalen Bewusstseins zu geben. Aber Prozesse können gelehrt und eingeübt werden. Aber die Erfahrung dann ist unaussprechbar. Wie gesagt wird, gibt es in uns einen göttlichen Samen - in einem frühen Entwicklungsstadium eingeschlossen in eine Hülle. Das umschließende Gebilde nährt und schützt das Leben, verhindert aber gleichzeitig seine Entfaltung. So wie ein Saatgut in fruchtbare Erde gepflanzt wird, ist es der göttliche Same in der menschlichen Persönlichkeit. So entsprechend kann die Beschreibung eines spirituellen Prozesses im spirituellen Leben mit dem Prozess des Gärtnern's vergleichend gesehen werden. Wenn wir uns erst einmal dieser lebensspendenden Kraft in uns bewusst geworden sind, und es ist so, dass wir erahnen, dass etwas zum Ausdruck kommen und lebendig werden will, dann beginnen wir zu lernen, was wir für sein Wachsen und Entfalten tun können. Das ist genauso wie der Gärtner vorgeht. Er studiert, beobachtet und wacht über die Pflanzen, verändert die Umgebungsbedingungen und passt sie an die Erfordernisse des Saatguts an. Wir für uns nennen es Studium, Meditation und Dienst. Dies sind die Dinge, welche die Hüllen lösen, die das Leben verdecken. Wir lösen das Feste und Erstarrte an uns auf und geben damit dem Leben die Möglichkeiten, Jenseits des einschließenden Gehäuses zu wachsen.

Der Gärtner weiß wie er gute Wachstums- und Lebensbedingungen schaffen kann. Aber - er weiß nichts über das Leben selber. Dieses kann er nicht erklären oder kontrollieren. Alles, was er vermag, ist, gute Umfeld-Bedingungen zu schaffen. Und wenn diese richtig sind, wird er auch mit wenig Wissen erfahren, wie sich ihm ein sich größer entfaltendes Leben bekannt macht.

Wenn Krishnamurti über die Erfahrung einer Selbst-Transformation spricht, nimmt er ein Bild aus der Bibel:

 "Sie kommt zu dir wie ein Dieb in der Nacht."

Das ist treffend schön ausgedrückt und liegt jenseits irgendeiner Erklärung, die man geben könnte. Woran denken wir bei "einem Dieb in der Nacht?" 

Wir liegen schlafend im Bett; es ist dunkel; es ist ruhig; und ohne es zu bemerken, kommt jemand in unser Haus mit der einzigen Absicht, unser aller Wertvolles und Liebgewonnenes wegzunehmen. Was sind das für Dinge, die uns am wertvollsten sind? Natürlich unser materieller Besitz, und dazu unser Name, unsere Reputation, die Stellung und all die verschiedenen Dinge, mit denen wir uns identifizieren und die uns so ,heilig' wurden. Mit dem "Dieb in der Nacht" wird die Wichtigkeit all dieser Dinge hinweg gewischt. Und der göttliche Dieb enthüllt eine Gegenwärtigkeit, eine Kraft, eine Vision, die lange verdeckt war. 

Es gibt die Aussage: "Selbst-Transformation ist ein Zufall, aber spirituelle Übungen machen uns anfälliger für den Zufall." Wir haben keine Herrschaft über den Ort und die Zeit des Ereignisses. Aber wenn wir uns zu spirituellen Übungen verpflichten, kommen wir in eine das Erlebnis begünstigende Lage. Die Sonne scheint uns nicht, solange wir nicht nach draußen gehen.

Das folgende sind ein paar Gedanken von Henry David Thoreau, die wir je nach Vermögen verinnerlichen können:

"Unser Leben verzettelt sich in Einzelheiten ... Einfachheit, Einfachheit.

...Ich glaube an die Einfachheit. Es ist sowohl erstaunlich als auch traurig, welch große Menge banaler Angelegenheiten selbst der weiseste Mensch im laufe eines Tages meint erledigen zu müssen; und dazu eine einzig- artige Gelegenheit versäumt, von der er denkt, er müsse sie übergehen: Sobald der Mathematiker ein schwieriges Problem lösen will, befreit er die Gleichung zunächst von allen Behinderungen und reduziert sie auf die einfachsten Glieder. Vereinfachen sie also das Problem des Lebens, nehmen sie das Notwendige und das Wirkliche wahr. Erkunden Sie die Erde, damit Sie sehen, wo Ihre Hauptwurzeln verlaufen."

Der Autor dieses Artikels ist Tim Boyd, Präsident der Theosophical Society Adyar International.

Der Artikel erschien im "Theosophist", No. 3, 2020, und wurde übersetzt von Dr. Ruth C. Fischer. 

1) Edgar Mitchell, Wege ins Unerforschte, Verlag Lüchow, Freiburg i. Br. Der Autor beschreibt darin seine Forschung zu Wirkungen des         Bewusstseins. Empfehlenswert auch: Richard Bucke, Kosmisches Bewusstsein, Insel Taschenbuch 1498, Frankfurt/M und Leibzig.


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