Die Bedeutung der Theosophie (aus Annie Besant: Das Gewebe des Schicksals )

13.07.2021

Das Wort »Theosophie« ist auf den Lippen vieler, und wie M. Jourdain in Prosa sprach, ohne es zu wissen, so gibt es auch viele, die Theosophen sind, ohne dass es ihnen zum Bewusstsein kommt. Theosophie ist göttliche Weisheit, und diese Weisheit ist das Licht, das jedem Menschen, der je zur Welt gekommen ist, leuchtet. Es gehört keinem ausschließlich, es gehört allen gemeinsam. Die Kraft, es zu erhalten, ist gleichzeitig das Recht, es zu besitzen, und die Tatsache des Besitzens bringt auch die Pflicht mit sich, daran teilzunehmen. Jede Religion, jede Philosophie, jede Wissenschaft, jede Tätigkeit bezieht das, was sie an Wahrheit und Schönheit besitzt, aus der göttlichen Weisheit, und es kann keine von ihnen anderen gegenüber diese als ihr ausschließliches Eigentum beanspruchen. Theosophie gehört nicht der Theosophischen Gesellschaft; die Theosophische Gesellschaft gehört der Theosophie.

Was aber ist das innerste Wesen der Theosophie? 

Es ist die Tatsache, dass der Mensch, da er selbst göttlich ist, die Gottheit erkennen kann, an deren Leben er teilnimmt. Aus dieser höchsten Wahrheit erwächst als ihre unvermeidliche Schlussfolgerung die Tatsache der Bruderschaft aller Menschen. 

Das göttliche Leben ist der Geist in allem Bestehenden, vom Atom angefangen bis zum Erzengel. Das Staubkörnchen könnte nicht vorhanden sein, wäre Gott nicht in ihm, und der erhabenste Seraphim ist nichts als nur ein Funken des göttlichen Feuers, welches Gott ist.

So bilden wir eine Gemeinschaft, mit der wir an dem einen Leben in Gott teilnehmen. Die Grundwahrheiten der Theosophie sind: Das Durchdrungensein von Gott und das Wohnen in Gott sowie die Solidarität der Menschen.

Ihre an zweiter Stelle kommenden Lehren sind die gewöhnlichen Lehren aller lebenden oder toten Religionen: Die Einheit Gottes, die Dreieinigkeit seiner Natur, das Herabkommen des Geistes in die Materie und die Hierarchie der Intelligenzen, wovon eine die Menschheit ist. Das Wachsen der Menschheit durch das Entfalten des Bewusstseins und die Entwicklung von Körpern, fortschreitend durch Reinkarnation unter dem unzerstörbaren Gesetz der Kausalität, dem Karma-Gesetz. Die Umgebung, in der dieses Wachsen sich vollzieht, besteht aus drei Welten: Der physischen, der astralen und der mentalen Welt. Man könnte auch Erde, Jenseits und Himmel sagen. Dazu gehört das Wissen um die Existenz göttlicher Lehrer, die einst Menschen wie wir waren, jetzt aber bereits übermenschliche Wesen geworden sind.

Alle Religionen lehren oder haben dies gelehrt, obgleich von Zeit zu Zeit die eine oder andere dieser Lehren vorübergehend in den Hintergrund gedrängt worden sein mag. Immer aber erscheinen sie wieder, wie beispielsweise auch die Lehre von der Reinkarnation der Christenheit entfallen ist, ihr jetzt aber wieder zum Bewusstsein kommt.

Es ist die Aufgabe der Theosophischen Gesellschaft als Ganzes, diese Wahrheiten in allen Ländern weiter zu verbreiten, obgleich kein Mitglied im Einzelnen dazu angehalten ist, irgendeine dieser Wahrheiten anzunehmen. Jedem Mitglied steht es absolut frei, so zu studieren, wie es ihm gefällt, eine Lehre anzunehmen oder zu verwerfen, aber wenn die Gesellschaft als Ganzes aufhören würde, diese Wahrheiten anzunehmen und weiter zu verbreiten, dann würde sie auch zu bestehen aufhören.

Die Einheit der Lehren in den Religionen der Welt ist der Tatsache zuzuschreiben, dass sie alle durch Mitglieder der Bruderschaft der göttlichen Lehrer gegründet worden sind, welche die Hüterin der göttlichen Weisheit ist. Aus dieser Bruderschaft treten von Zeit zu Zeit die Gründer neuer Religionen hervor, die der Menschheit immer wieder dieselben Lehren bringen, sie aber so umformen, damit sie stets den Bedingungen der herrschenden Zeit sowie der intellektuellen Stufe, auf der das jeweilige Volk steht, zu dem sie kommen, seiner Art, seinen Bedürfnissen und seinen Fähigkeiten, entsprechen. Die Hauptsachen sind stets dieselben, die Nebensachen mögen verschieden sein. Die Identität liegt in den Symbolen, wie sie allen Religionen zu eigen sind, denn Symbole sind die alltägliche Sprache der Religionen. Der Kreis, das Dreieck, das Kreuz, das Auge, die Sonne, die Sterne und viele andere legen von jeher ein stummes Zeugnis von der fundamentalen Einheit der Religionen der Welt ab. Da die Theosophische Gesellschaft dies anerkennt, dient sie allen Religionen innerhalb deren eigenen Glaubensgebieten und vereint sie in einer großen Bruderschaft.

Was die ethische Seite der theosophischen Lehren betrifft, gründet die Theosophie diese auf die Einheit des Seins, indem sie in jeder Form den Ausdruck eines allen gemeinsamen Lebens findet und darin die Tatsache offenbart, dass das, Was ein Wesen verletzt, alle verletzt. Böses zu tun, also Gift in das Lebensblut der Menschheit zu gießen, ist ein Verbrechen gegen diese Einheit. Die Theosophie versteht sich vom Ursprung her als eine Verkörperung der höchsten Moral, aber sie zeigt ihren Jüngern die höchsten moralischen Lehren aller Religionen, indem sie die duftendsten Blüten aus dem Garten der Religionen der Welt sammelt. Die Theosophische Gesellschaft hat keinen Kodex, denn jeder solcher, besonders ein aufgedrängter Kodex, würde nur einen Durchschnitt des gesellschaftlichen Bewusstseins repräsentieren, während die Gesellschaft bemüht ist, ihre Mitglieder über den gewöhnlichen Stand der Zeiten und Dinge zu erheben, indem sie ihnen immer wieder die höchsten Ideale vor Augen hält und sie mit den erhabensten Idealen erfüllt.

Sie lässt das Gesetz des Moses beiseite und handelt im Geiste des Buddha und des Christus. Sie trachtet danach, das innere Gesetz hervorzuheben, nicht ein äußerliches aufzustellen. Ihre Gepflogenheit ist es nicht, weniger fortgeschrittene Mitglieder auszuschließen, sondern sie in ihrer Entwicklung zu fördern.

Die Verkörperung der göttlichen Weisheit in eine Organisation bildet einen Kern, aus dem ihre Lebenskraft auszustrahlen vermag. Ein neues und starkes Glied für die Verbindung der geistigen und materiellen Welten wurde dadurch geschmiedet, und es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Sakrament, »das äußerliche und sichtbare Zeichen einer innerlichen und geistigen Gnade«, ein Zeuge für das Leben Gottes im Menschen.