Christentum. Kirchentum und Wahrheit.

05.04.2025

Das Wort "C h r i s t u s" kommt ursprünglich aus dem Sanskrit, und Chréstés bezeichnete bei den alten Griechen (Aschylos, Herodotos etc.) einen Propheten. 

Chréstos bezeichnete ursprünglich einen Schüler der Weisheit auf dem Wege der Initiation (Einweihung); hatte er alle Hindernisse überwunden und sich gereinigt, so wurde er ein "mit dem Heiligen Geist Gesalbter", ein Christos.

Dies wird genügen, um anzudeuten, daß das Wort "Christentum" etwas viel höheres bedeutet, als man gewöhnlich darunter versteht, und daß ein wirklicher Christ nicht der Anhänger irgend einer Sekte, die sich "christlich" nennt, sondern ein Mensch ist, der den Weg der göttlichen Selbsterkenntnis und Unsterblichkeit wandelt. 

Ebensowenig ist der wahre Christ der Anhänger irgend eines Menschen oder beschränkten Wesens namens "Christus",  sondern ein Mensch, welcher dem Lichte der ewigen Wahrheit, das der ganzen Welt ohne Unterschied der Nationalität oder Konfession leuchtet, empfänglich ist.

Meister Eckhart sagt:

Gott ist unser Vater und die Christenheit (die Gotteserkenntnis) ist unsere Mutter, Christus (die Wahrheit) ist überall, nicht der Art nach, sondern nur dem Grade nach von uns verschieden.
Von einem Eintreten für uns ist keine Rede, vielmehr sollen wir durch sittliche Vollendung Christus selber werden, und ohne dies kann uns auch das Leiden und der Tod Christi nichts helfen."

Wir dürfen daher auch das wahre Christentum nicht mit dem "christlichen" Kirchentum verwechseln; denn eine Kirche kann nur insoweit wahrhaftig christlich sein, als sie dem Menschen den Weg zur Wahrheit zeigt, ihn dazu anleitet, wie er sich verhalten muss, damit sich in seinem Innern die Lotusblume der göttlichen Selbsterkenntnis entfalten, in ihm selbst der Gottmensch (Christus) erwachen kann. 

Die Wahrheit gehört der Ewigkeit, die Kirche auf Erden der Vergänglichkeit an. Das Merkmal eines Kirchengängers ist, daß er die Kirche, dasjenige eines wahren Christen, daß er Gott als sein Höchstes erkennt.

Die äußerliche Kirche mag zur Erlangung der Gotteserkenntnis ein Hilfsmittel oder ein Hindernis sein. Ein Hilfsmittel ist sie, wenn man in ihr die Lehre der Wahrheit findet und dieselbe befolgt; 

ein Hindernis ist sie, wenn man in dem blinden Glauben an Dogmen und Theorien stecken bleibt. 

"Die kirchlichen Übungen und Vorschriften sind nicht das Höchste; sie haben ihre Berechtigung bis dahin, wo der Gläubige über sie hinauswächst." (Meister Eckhart)

Dadurch ist noch niemand zur göttlichen Weisheit gelangt, daß er die Kirche und mit ihr die Wahrheit, welche in ihr gelehrt wird, verachtet, oder sich einbildet, daß er dieselben nicht nötig habe; auch nicht dadurch, dass er blindlings an Dinge glaubt, von denen er eine verkehrte Vorstellung hat; sondern nur dann kann er auf das Kirchliche herabblicken, wenn er über dasselbe emporgewachsen ist, und der Glaube an Meinungen hat erst dann wirklichen Wert, wenn man den Gegenstand, um den es sich dabei handelt, richtig begreift.

Wenn aber die Kirche selbst die Wahrheit, welche sie zu lehren vorgibt, nicht mehr erkennt, den Geist mit der Form, den äußerlichen Schein mit dem innerlichen Wesen verwechselt und ihr Selbstinteresse höher hält als die Wahrheit, dann ist sie auch in Wirklichkeit keine christliche Kirche.

Das bedeutet, sie ist keine Schule der Weisheit mehr, und nicht länger von der Weisheit berufen oder fähig, die Weisheit zu lehren. 

Ob sie das, was sie zu sein vorgibt ist oder nicht ist, darüber entscheidet nichts anderes als die eigene höhere Erkenntnis, die vom Geiste der Wahrheit erfüllte Vernunft, welche in allen menschlichen Dingen die oberste Richterin ist.

Ohne dieses Licht der Vernunft ist der Mensch nur ein Tier, dem man vielleicht eine künstliche Art von Moral oder Dressur, aber keine wahre Religion beibringen kann. Unter solchen Tiermenschen können alle möglichen Arten von Intellektualität, Klugheit, Scharfsinn, Logik vertreten sein; man kann unter ihnen große Geschichtsforscher, Theologen, Philosophen, Chemiker, Gelehrte und Professoren usw. finden; aber alles dies gehört nicht zur wahren Erkenntnis und bringt keinen Christen hervor.

Ein Christ im wahren Sinne des Wortes ist ein Mensch, in dessen Seele das Licht der Gotteserkenntnis gedrungen ist. 

Wird er ganz von diesem Lichte erfüllt, so ist er Christus, d. h. er ist durch diese Vereinigung (Yoga) e i n s  mit dem Einen unsterblichen und allgegenwärtigen Lichte der göttlichen Weisheit, e i n s  mit C h r i s t u s,  dem Gottmenschen.

(dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: Abhandlungen über YOGA, von Dr. Franz Hartmann (1832 - 1912)

... zurück zur Webseiten-Navigation.